Ein Theaterstück von Anaïs Clerc. Produktion Grenzgänge.ch.
Gedanken nach dem Theaterbesuch in der Winkelwiese am 25. Oktober 2024.
Wie aus einem Kokon schälen sich drei Frauen aus den sie eng umschliessenden Tüchern, die ihnen das ganze Stück hindurch Halt geben, sie aber auch eingrenzen. Herausgewunden aus der Enge des Stoffes schlüpfen die Schauspielerinnen abwechselnd in die Rolle der Kassandra und der Klytaimnestra und verhandeln an den mythischen Frauenfiguren das Schicksal der Vergewaltigten, der verzweifelten Mutter, der zurückgesetzten Ehefrau, des Mädchens und der Erwachsenen. Sie suchen nach Wegen der Heilung für die Verletzung, für das «Nicht–gehört–Werden», für die Überforderung des «Mutter-Seins», für die Kränkung. Es muss doch noch etwas anderes geben als das immer gleiche Ende des griechischen Dramas! Sie wollen der Ohnmacht gegen das gesellschaftliche System, in dem immer die vorherrschende Ordnung obsiegt, einen Ausweg entgegensetzen. Wir haben 2024! Agamemnon muss doch einsehen, dass Klytaimnestra nicht allein für Iphigenie sorgen kann, denn die Sorge für ein Kind ist zu viel für einen Menschen alleine! Dann muss halt jemand anderer das Heer der Griechen nach Troja führen. Besser noch – niemand soll ein Heer irgendwohin führen. Es soll keine Kassandra mehr als Kriegsbeute besessen werden. Iphigenie soll einen Vater haben, der seine Tochter nicht Altar der Karriere opfert!
Klytaimnestra muss Kassandra nicht töten! Wir (Frauen) müssen nicht die Rollen spielen, die uns vom Patriachat zugeteilt werden. In Netzwerken zusammengeschlossen, können wir mit vereinter Kraft alte Zöpfe abschneiden, eine neue Gesellschaft flechten, die Care-Arbeit neu verteilen und gerecht organisieren. Die Kassandra im Stück von Anaïs Clerc zieht sich mit Gleichgesinnten in die Wildnis zurück, entdeckt dort ihr Selbst und kann ohne gesellschaftliche Zwänge leben. Die Frauen auf der Bühne haben (noch) keine Lösung, sie wissen (noch) nicht, wie es gehen soll, aber so soll es nicht gehen. Kassandra, das soll die letzte gewesen sein, die vergewaltigt wurde, die ermordet wurde.
Das Bühnenbild (von Barbara Pfyffer), das aus ein paar an der Decke befestigten, verknoteten und verflochtenen Stoffbahnen besteht, veranschaulicht die Dialoge der Frauen, und visualisiert die Lösungsprozesse, die die Schauspielerinnen für das Dilemma, in dem sich Klytaimnestra und Kassandra befinden, entwickeln. Sie lösen die alten Verflechtungen und Verknotungen, spannen neue Netzwerke, unterstützen und tragen sich gegenseitig.
Aber nicht nur Tücher werden geflochten, auch Haare. Lange Haare sind seit eh und je das Symbol für Weiblichkeit und Verführung, aber auch für Stärke. Wie eine Löwenmähne türmen sich die Haarteile und Perücken auf der Bühne zwischen den ‘Tuchwohungen’ und nehmen Bezug zum Löwentor von Mykene, vor dem sich die Begegnung von Klytaimnestra und Kassandra abspielt. Das Spiel mit den Haarteilen symbolisiert die Frage: «Was gehört sich für ein Mädchen?» Ein Zopf? Das Haar darf nicht offen sein, es muss gebändigt werden. Wie die Mädchen. Die Frauen. Kassandra und Klytaimnestra. Zwei Archetypen, die nicht willig sind ihre zugeteilten Rollen zu spielen, weder als fügsame Geliebte eines Gottes noch als geduldige, sanfte Ehefrau.
Kassandra und keine mehr von von Anaïs Clerc wurde von Grenzgänge unter der Regie von Bettina Glaus produziert. Spiel: Vera Bommer, Nina Langensand und Kathrin Veith. Nächste Vorstellungen 21./22./23. November 2024 Tojo Theater Bern. Weitere Spieltermine in Zug, Stans und Aarau.
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